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Mindset Blog

Wer bin ich und wer sind wir? - Individuelle und soziale Identität

Warum ist diese Frage insbesondere in der heutigen Zeit so relevant und warum birgt sie eine solch hohe Komplexität? Die Ergründung unserer eigenen Identität bedeutet die Erforschung tiefer kognitiver Ebenen und bedarf ausgiebiger Reflexion und absoluter Ehrlichkeit zu sich selbst. Mit diesem Prozess können wir ein Bewusstsein für das eigene ICH schaffen und damit für die zentralen Leitprinzipien und Werte, welche eine enorme Hilfestellung in Krisensituationen oder schwierigen Entscheidungen bieten. Gleichzeitig ermöglicht uns diese Perspektive die Brücke zum sozialen ICH zu schlagen. Im beruflichen Kontext kann die soziale Identität im Sinne eines Selbstbildes der Organisation (engl. Fachbegriff: Corporate Identity) verstanden werden. Welchen praktischen Mehrwert dies für die Organisation und Individuum bietet, werden wir im folgenden Beitrag genauer beleuchten und dies sowohl aus einer praktischen als auch psychologischen Perspektive betrachten.

„Was macht dich als Person aus? Was sind deine Werte, die dir Orientierung im Leben bieten?“ Wenn Sie diese Frage mit Leichtigkeit beantworten können, gehören Sie zu den wenigen Glücklichen, die wahrscheinlich bereits viel Zeit und Mühe in diesen Entdeckungsprozess investiert haben. So oder so lohnt es sich an dieser Stelle nochmal zu hinterfragen, ob das was wir als unsere Leitprinzipien oder Werte bezeichnen, tatsächlich unseren Bedürfnissen und tiefliegenden Überzeugungen und Grundannahmen entspricht oder eher auferlegte Floskeln und Ausrufe externer Autoritäten sind. Warum? Die Antwort darauf liegt in der Komplexität unserer Umwelt. Wir werden dazu forciert immer wieder schnell Entscheidungen treffen zu müssen, ohne einer klaren Faktenlage und in Konfrontation mit widersprüchlichen Informationen. Sowohl Organisationen als auch Individuen. In diesem Geflecht berufen wir uns oft auf Intuition und uns oft unbewusste und nicht greifbare Überzeugungen. Um mehr Klarheit und Orientierung zurückzugewinnen ist es wichtig das Unsichtbare sichtbar zu machen.



Das verschleierte ICH „Ist da Staub oder bin das ich?“ - ein Zitat von Jay Shetty (2020), dem Autor eines inspirierenden Werkes „Das Think like a Monk Prinzip“, welches sehr gut die äußeren Einflüsse und das verschleierte wahre Selbst veranschaulicht, gibt uns einen spannenden Impuls. Bei einem Blick in einen verstaubten Spiegel konnte der Autor sein eigenes Spiegelbild kaum erkennen. Erst nachdem er die Staubschicht beseitigte, erblickte er sein Abbild. Die Loslösung von Ablenkungen, die Abstraktion von externen Einflüssen, dem Übermaß an Reizen zum Beispiel in Form von in Social Media vermittelten verzerrten Idealen, stellt Jay Shetty (2020) als eines der zentralen Prinzipien zur Erkennung eigener Werte und Leitprinzipien dar. Als Werte bezeichnet der Autor psychologische Konzepte, die aus einem einzigen Wort bestehen, wie Freiheit, Ehrlichkeit oder Loyalität. Auf den ersten Blick mag es abstrakt oder auch idealistisch wirken, jedoch können Wertkonstrukte auch einen sehr praktischen Bezug haben. Shetty bezeichnet Werte als eine Art ethisches Navi, welches insbesondere bei komplexen Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen oder auch in Situationen, in denen das Richtige oder Falsche, nirgends niedergeschrieben ist, sondern vielmehr aus einer subjektiven Abwägung resultiert, dem Individuum den Weg weist.

Eine Identifikation bzw. Reflexion der eigenen Werte und Leitprinzipien bedarf einem Verständnis wie diese entstehen. Einen Einfluss darauf nimmt zum einen das Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind, sowie die zentralen Autoritätspersonen wie Eltern oder Lehrer. Für was wurden wir belohnt und wann getadelt? Welche Erfahrungen hat man in der eigenen Sozialisierung gemacht und was hat man daraus gelernt? Ein Blick in die eigene Vergangenheit lohnt sich an dieser Stelle um das nicht greifbare und das gefühlt Unsichtbare, sichtbar zu machen. Im Anschluss an diesen Gedankenprozess ist es wichtig sich selbst zu fragen: Welche Werte haben sich tatsächlich in meinem Leben bewährt? Shetty fügt zudem hinzu, dass unser täglicher Konsum an Medieninhalten ebenfalls kontinuierlich unsere Werte beeinflusst. Ist unser Instagram Feed von Erfolgsbildern, idealistischer Welt, Perfektion auf der einen Seite und beunruhigenden Nachrichten auf der anderen Seite gefüllt, so sind unsere Werte umso stärker von Neid, Rivalität und Unzufriedenheit behaftet. Folglich haben Werte einerseits einen fundierten, beständigen Charakter aber auch eine gewisse Flexibilität und die Fähigkeit sich zu wandeln und sich zu verändern.


Entwicklung unserer Identität – ist es dafür denn nicht zu spät?

Die Entwicklung der Identität im Zusammenhang mit Wertkonstrukten lässt sich aus der psychologischen Perspektive beleuchten. Einen Ansatz hierzu bietet der Wissenschaftler Robert Kegan (1986).

In seinem Modell beschreibt Kegan (1986) die Entwicklung des Menschen als eine Aktivität, einen ständigen Prozess, welcher durch Verlust und Gewinn bzw. Finden und Verlieren charakterisiert wird. Kegan (1986) beschreibt insgesamt 5 Stufen der Entwicklungen angefangen mit Stufe 0. Spannend ist an dieser Stelle, was mit dem Individuen passiert, wenn dieses über die Stufen “wandert“. Im Rahmen einer stufenartigen Identitätsentwicklung, lässt der Mensch nämlich mit jedem neuen Abschnitt gefestigtes Selbst zurück und relativiert sein bisheriges Wissen, basierend auf Erfahrungen. Es verändert sich also die Wahrnehmung unserer Umwelt. Kegan (1986) beschreibt das als eine Subjekt-Objekt Verschiebung. Subjekt ist in dem Fall die subjektive, unbewusste Welt und Objekt die wahrgenommene Außenwelt und damit unser Bewusstsein. Also in gewisser Weise „das was ich bin“ und „das was ich habe“. Das heißt, dass der Mensch im Zuge der Entwicklung eine Distanz zu seinen aktuellen Überzeugungen, Glaubenssätzen gewinnen kann und damit in der Lage ist, Bestehendes zu reflektieren, zu hinterfragen und wenn nötig hinter sich zu lassen. Das „Erwachsen werden“ definiert Kegan (1986) als die Entwicklung eines unabhängigen Selbstbewusstseins bzw. dem zunehmenden Bewusstsein über das eigene ICH, die tieferliegenden Bedürfnisse und Wünsche und damit die Kontrolle des eigenen Verhaltens. Auffällig ist, dass Kegan (1986) rund 58% der Erwachsenen der Stufe 3 von 5 zuordnet, dem sogenannten „Zwischenmenschlichen Selbst“ (Fischer, 2020). Hier definiert sich das Individuum stark durch seine Beziehungen. Wir brauchen also den anderen, damit unser „Selbst“ überhaupt existieren kann. Im gleichen Zuge bedeutet es ein eher geringes Bewusstsein des eigenen Selbst, sondern eine hohe Abhängigkeit von der Meinung der anderen, ganz im Sinne: „Wenn alle zustimmen, widerspreche ich nicht“. Die Konformität mit der Mehrheit, um dazuzugehören und daraus resultierend einem verschwommenen und schwergreifbaren „Selbst“. An dieser Stelle möchte ich nochmals auf die eingangs aufgeworfene Frage eingehen: Wissen wir denn tatsächlich wer wir sind? Wie viel von unseren Werten, Überzeugungen und Glaubenssätzen haben wir eigeneständig reflektiert, angenommen und uns bewusst gemacht und wie viel davon wurden uns auferlegt?

Laut Kegan (1986) haben wir also noch einen Weg vor uns, um tatsächlich zu einem unabhängigen und bewussten, „erwachsenen“ Selbst zu gelangen. Gleichzeitig wissen wir, dass der Mensch in der Lage ist, den Status Quo zu hinterfragen, sich zu reflektieren, Unbewusstes bewusst zu machen und Gewohntes loszulassen. Der Mensch ist damit ein Wesen, dass dazu fähig ist, lebenslang zu lernen und sich auch selbstständig weiterzuentwickeln.


Das sichtbare ICH schafft Mehrwert für Individuum und Organisation

Jay Shetty (2020) fordert in diesem Zusammenhang seine Leser dazu auf, sich die Abstraktion der Werte durch ein simples Aufschreiben dieser zu nehmen. Zudem sollte man sich überlegen woher diese Werte stammen und im zweiten Schritt reflektieren, inwieweit man immer noch dahintersteht und was gegen diese Werte sprechen könnte. Doch was bringt uns dieser Weg der Reflexion in der Praxis? Das Bewusstwerden über die eigene Identität, über unsere Werte und Prinzipien kann uns wie bereits erwähnt als eine Art ethisches Navi in komplexen Situationen dienen.

Angenommen Sie stehen vor der Entscheidung einen neuen Job in einem Unternehmen anzunehmen. Welche Faktoren sind für Sie dabei entscheidend? Priorisieren Sie Prestige, monetäre Anreize, Karriere oder geht es Ihnen eher um Nachhaltigkeit, den fassbaren Mehrwert Ihrer Arbeit und ein familiäres Umfeld? An dieser Stelle lässt sich eine Brücke zur sozialen Identität schlagen: Die eingangs erwähnte DNA einer Organisation kann auch als eine WIR-Identität verstanden werden. Beispielsweise ist für das Finden und Binden neuer Mitarbeiter für Organisationen umso wichtiger eigene Werte und Leitprinzipien herauszukristallisieren und sich als eine Einheit im Hinblick auf eine soziale Identität zu positionieren. An dieser Stelle wird der Bezug von Identität zum HR-Feld sichtbar. Eine stabile und langfristige Arbeitsbeziehung bedarf Klarheit über die zentralen Werte, Bedürfnisse und Prinzipien sowohl auf der Seite des Kandidaten als auch der Organisation.

Die Metapher eines ethischen Navis basierend auf einer klaren, sozialen Identität unterstützt außerdem bei strategischen Entscheidungen eines Unternehmens. Insbesondere in diesen turbulenten Zeiten, geprägt von zunehmender Komplexität und unaufhaltsamer Digitalisierung stehen Unternehmen vor sich ständig wandelnden Rahmenbedingungen. Die Herausforderung liegt darin, trotz geforderter Flexibilität die erarbeiteten Leitprinzipien nicht aus den Augen zu verlieren.

Auch im Hinblick auf die Personalentwicklung findet sich ein Schnittpunkt mit der Identitätsentwicklung. So stehen Unternehmen in der Verantwortung ihren Mitarbeitern die Last des Zustands einer sorgenvollen diffusen Identität möglichst zu nehmen. Wie bereits erwähnt handelt es sich dabei in gewisser Weise um vorhandenen Lernwillen aber fehlende Ressourcen. Somit ist es wichtig den Mitarbeitern zugängliche und individuell anpassbare Lerninhalte zur persönlichen Entwicklung zur Verfügung zu stellen. Die thematische Ausrichtung bzw. Schwerpunktsetzung sollte gleichzeitig im Einklang mit der Unternehmensstrategie und der sozialen DNA stehen.

Es ist also durchaus nicht leicht eine Antwort auf die Frage nach der eigenen und sozialen Identität herauszuarbeiten. Es bedarf Zeit und Selbstreflexion. Zudem ist es nichts Statisches und nichts was ausschließlich auf eine Lebensphase beschränkt werden kann. Dennoch zeigt es sich, dass es einen enorm hohen Mehrwert hat diesen Weg der Reflexion zu gehen und sich sowohl auf individueller als auch auf sozialer Ebene mit der Thematik auseinanderzusetzen. Lassen Sie sich auf diese Expedition ein, denn mit einem Bewusstsein für das eigene ICH, für die Dinge, die uns wichtig sind, werden wir dazu befähigt Krisen und Komplexität leichter zu bewältigen und kommen der Harmonie und Authentizität im beruflichen Bereich einen großen Schritt näher.

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